BGH-Urteil: Wer hat Vorfahrt bei beidseitiger Fahrbahnverengung? Neue Rechtsprechung zur Haftungsverteilung
BGH-Urteil vom 08.03.2022 (Az. VI ZR 47/21)
Das Wichtigste in Kürze
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seinem Urteil vom 08.03.2022 eine wegweisende Entscheidung zur beidseitigen Fahrbahnverengung getroffen. Das Gericht stellte klar: Bei Verkehrszeichen 120 (beidseitige Fahrbahnverengung) gibt es keinen automatischen Vorrang für den rechts fahrenden Verkehrsteilnehmer. Stattdessen gilt das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme.
Der Unfallhergang: Typische Situation im Straßenverkehr
Am 17. Oktober 2018 ereignete sich in Hamburg ein Verkehrsunfall, der beispielhaft für viele ähnliche Situationen steht:
- Zwei Fahrzeuge fuhren nebeneinander auf einer zunächst zweispurigen Straße
- Ein PKW auf dem rechten, ein LKW auf dem linken Fahrstreifen
- Nach einer Ampel folgte das Gefahrenzeichen 120 (beidseitige Fahrbahnverengung)
- Der LKW-Fahrer zog nach rechts und übersah dabei den PKW
- Beide Fahrzeuge kollidierten und wurden beschädigt
- Die Versicherung regulierte zunächst im Verhältnis 50:50, was der BGH nun bestätigt hat.
Die Versicherung regulierte zunächst im Verhältnis 50:50, was der BGH nun bestätigt hat.
BGH-Entscheidung: Keine Vorfahrt bei beidseitiger Fahrbahnverengung
Kernaussage des Urteils
Der BGH stellt unmissverständlich fest:
„Bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120) gilt das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme. Ein regelhafter Vorrang eines der beiden bisherigen Fahrstreifen besteht nicht.“
Rechtliche Begründung
Das Gericht unterscheidet klar zwischen verschiedenen Arten der Fahrbahnverengung:
Beidseitige Fahrbahnverengung (Zeichen 120):
- Beide Fahrstreifen werden zu einem zusammengeführt
- Kein Fahrstreifen endet, beide werden verengt
- Erhöhte Rücksichtnahmepflicht nach § 1 StVO
- Kein Reißverschlussverfahren anwendbar
Einseitige Fahrbahnverengung (Zeichen 121):
- Ein Fahrstreifen endet, einer bleibt bestehen
- Vorrang für den durchgehenden Fahrstreifen
- Anwendung des Reißverschlussverfahrens
Praktische Auswirkungen für Autofahrer
Was bedeutet das für den Straßenverkehr?
- Keine Rechts-vor-Links-Regel: Auch wenn oft angenommen wird, dass der rechte Fahrstreifen Vorrang hat – das ist bei beidseitiger Fahrbahnverengung nicht der Fall.
- Erhöhte Aufmerksamkeit erforderlich: Beide Verkehrsteilnehmer müssen besonders aufmerksam und rücksichtsvoll fahren.
- Verständigung notwendig: Die Fahrer sollten sich durch Blickkontakt oder Handzeichen verständigen, wer zuerst fahren darf.
- Im Zweifel nachgeben: Wenn keine Verständigung möglich ist, sollte jeder dem anderen den Vortritt lassen.
Haftungsverteilung bei Unfällen
Bei Verkehrsunfällen an beidseitigen Fahrbahnverengungen prüfen Gerichte:
- Verstoß gegen Rücksichtnahmepflicht beider Beteiligter
- Grad der Verursachung des jeweiligen Fahrers
- Verkehrswidriges Verhalten (z.B. unaufmerksames Fahren, falsches Vertrauen auf Vorfahrt)
- Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge
Im vorliegenden Fall bestätigte der BGH eine 50:50-Haftungsverteilung, da beide Fahrer gleichermaßen gegen ihre Sorgfaltspflichten verstoßen hatten.
Abgrenzung zu anderen Verkehrssituationen
Wann gilt das Reißverschlussverfahren?
Das Reißverschlussverfahren nach § 7 Abs. 4 StVO gilt nicht bei beidseitiger Fahrbahnverengung, sondern nur wenn:
- Ein Fahrstreifen tatsächlich endet
- Eine einseitige Fahrbahnverengung vorliegt
- Fahrzeuge aufgrund von Hindernissen den Fahrstreifen wechseln müssen
Unterschied zur Rechts-vor-Links-Regel
Die allgemeine Rechts-vor-Links-Regel (§ 8 StVO) gilt an Kreuzungen und Einmündungen, nicht aber bei Fahrbahnverengungen. Dies betonte der BGH ausdrücklich in seinem Urteil.
Tipps für Verkehrsteilnehmer
So verhalten Sie sich richtig bei beidseitiger Fahrbahnverengung:
- Frühzeitig erkennen: Achten Sie auf das Verkehrszeichen 120
- Geschwindigkeit reduzieren: Fahren Sie langsamer und aufmerksamer
- Blickkontakt suchen: Versuchen Sie, sich mit dem anderen Fahrer zu verständigen
- Rücksichtsvoll agieren: Lassen Sie im Zweifel den anderen Verkehrsteilnehmer vor
- Ausreichend Abstand halten: Vermeiden Sie zu dichtes Auffahren
Bei einem Unfall
- Sofort anhalten und Unfallstelle absichern
- Polizei und ggf. Rettungsdienst rufen
- Beweise sichern (Fotos, Zeugen)
- Versicherung informieren
- Rechtlichen Rat einholen: Die Haftungsverteilung ist oft komplex
Bedeutung für die Rechtspraxis
Dieses BGH-Urteil schafft Rechtssicherheit in einer häufig strittigen Frage des Verkehrsrechts. Viele Autofahrer und auch Gerichte gingen bisher fälschlicherweise davon aus, dass bei Fahrbahnverengungen grundsätzlich der rechte Fahrstreifen Vorrang habe.
Auswirkungen auf laufende Verfahren
- Revision bestehender Urteile möglich, wenn diese von einem Rechts-Vorrang ausgingen
- Neubewertung von Versicherungsfällen bei ähnlichen Unfallkonstellationen
- Anpassung der Rechtsprechung in unteren Instanzen
Fazit: Gegenseitige Rücksichtnahme ist das A und O
Das BGH-Urteil macht deutlich: Bei beidseitiger Fahrbahnverengung gibt es keine starren Vorfahrtsregeln. Entscheidend ist die gegenseitige Rücksichtnahme aller Verkehrsteilnehmer. Autofahrer sollten besonders aufmerksam sein und im Zweifel dem anderen Verkehrsteilnehmer den Vortritt lassen. Bei Unfällen an Fahrbahnverengungen ist die Haftungsverteilung meist komplex und hängt vom Einzelfall ab. Eine hälftige Haftung ist häufig, aber nicht automatisch die Regel.
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Schlagwörter: BGH Urteil, Fahrbahnverengung, Verkehrsrecht, Haftung, Rücksichtnahme,
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