Betriebsbedingte Kündigung bei Schwerbehinderten: Was das LAG Hamm entschieden hat
Das Wichtigste in Kürze
Eine betriebsbedingte Kündigung kann auch bei schwerbehinderten Arbeitnehmern wirksam sein,
wenn alle rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Das Landesarbeitsgericht Hamm hat in einem
wichtigen Urteil vom 16. Februar 2007 (Az. 13 Sa 1126/06) entschieden, dass eine ordnungsgemäße
Betriebsratsanhörung und die Zustimmung des Integrationsamtes ausreichen können.
Der Fall: Kündigung eines schwerbehinderten Stanzers
Ein langjährig beschäftigter Betriebsleiter erhielt eine betriebsbedingte Kündigung, nachdem sein Arbeitgeber eine „Umorganisation“ durchführte. Die Stelle wurde nicht komplett gestrichen, sondern die Aufgaben sollten auf verschiedene andere Mitarbeiter verteilt werden. Der Arbeitgeber berief sich auf unternehmerische Gestaltungsfreiheit – doch das Gericht sah das anders.
Ausgangslage
- Arbeitnehmer: 51 Jahre alt, schwerbehindert (GdB 50), verheiratet, unterhaltspflichtig
- Tätigkeit: Stanzer in der Gießerei Zink seit 1990
- Unternehmen: Druckguss- und Oberflächentechnik mit 367 Mitarbeitern
- Grund: Restrukturierung mit Abbau von 108 Arbeitsplätzen
Die Kündigung
Im Rahmen einer Betriebsänderung schlossen Arbeitgeber und Betriebsrat am 21. Dezember 2005 einen Interessenausgleich und Sozialplan. Dabei wurde eine Namensliste mit zu kündigenden Mitarbeitern erstellt, auf der auch der schwerbehinderte Kläger stand. Das Integrationsamt stimmte der Kündigung zu, und der Arbeitgeber kündigte ordentlich zum 31. August 2006.
Streitpunkte: Was der Arbeitnehmer beanstandete
1. Mangelhafte Betriebsratsanhörung
Der Kläger argumentierte, der Betriebsrat hätte über das noch laufende Zustimmungsverfahren
beim Integrationsamt informiert werden müssen. Außerdem hätten Kündigungsfrist und -termin
mitgeteilt werden müssen.
2. Fehlerhafte Sozialauswahl
- Vergleichsgruppenbildung: Bei 156 Vergleichsgruppen sei diese zu eng gefasst
- Altersgruppen: Die Bildung von Altersgruppen schaffe erst eine ausgewogene
- Personalstruktur, statt sie zu erhalten
- Vergleichbarkeit: Der Kläger sah sich mit anderen Mitarbeitern vergleichbar
Handlungsempfehlungen
Für betroffene Arbeitnehmer:
- Sofortige Prüfung der Kündigungsgründe durch einen Fachanwalt
- Fristgerechte Kündigungsschutzklage einreichen
- Dokumentation der eigenen Aufgaben und Arbeitszeiten sammeln
- Weiterbeschäftigungsantrag stellen
Die Entscheidung des LAG Hamm
Ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung
Das Gericht bestätigte, dass die Anhörung des Betriebsrats ordnungsgemäß erfolgt war:
- Umfassende Information: Der Betriebsrat war über alle relevanten Punkte informiert
- Schwerbehinderung bekannt: Die Behinderung war dem Betriebsrat bekannt
- Interessenausgleichsverhandlungen: Die Erörterungen zur Namensliste galten als förmliche Information über Kündigungsgründe
- Zustimmung: Der Betriebsrat stimmte den Kündigungen zu
Rechtmäßige Sozialauswahl
- Komplexer Produktionsprozess: Austauschbarkeit nur nach monatelanger Einarbeitung
- Spezialisierung: Hoch spezialisierte Arbeitnehmer nicht ohne weiteres vergleichbar
- Behinderungsbedingte Einschränkungen: Epileptische Anfälle schlossen bestimmte Tätigkeiten aus
Praktische Konsequenzen für Arbeitgeber
Bei betriebsbedingten Kündigungen Schwerbehinderter beachten:
1. Zustimmung des Integrationsamtes
- Antrag vor Ausspruch der Kündigung stellen
- Zustimmung abwarten
- Fristen des § 85 SGB IX beachten
2. Ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung
- Vollständige Information über Kündigungsgründe
- Hinweis auf Schwerbehinderung
- Ausreichende Bedenkzeit einräumen
3. Sorgfältige Sozialauswahl
- Vergleichbare Arbeitnehmer ermitteln
- Soziale Gesichtspunkte berücksichtigen
- Behinderungsbedingte Einschränkungen beachten
Rechtliche Grundlagen
Die Entscheidung basiert auf:
- § 1 KSchG (Kündigungsschutzgesetz)
- § 102 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz – Anhörung Betriebsrat)
- § 85 SGB IX (Zustimmung Integrationsamt)
Fazit: Schutz hat Grenzen
Auch schwerbehinderte Arbeitnehmer genießen keinen absoluten Kündigungsschutz. Bei ordnungsgemäßer Durchführung des Verfahrens und sachlichen Gründen können betriebsbedingte Kündigungen wirksam sein. Entscheidend ist die sorgfältige Beachtung aller Verfahrensvorschriften.
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Beratung? Unsere Rechtsanwälte stehen Ihnen zur Seite – sowohl Arbeitgebern als auch
Arbeitnehmern.
Dieser Beitrag stellt eine allgemeine Information dar und ersetzt keine individuelle Rechtsberatung.