Arzthaftung: Wann reicht die Unterschrift auf dem Aufklärungsbogen nicht aus?
OLG Naumburg – Urteil vom 08.12.2014 (Az. 1 U 34/14)
Das Wichtigste in Kürze
- Unterschrift allein genügt nicht: Die bloße Unterzeichnung eines Aufklärungsbogens beweist noch kein ordnungsgemäßes Aufklärungsgespräch.
- Substantiierungspflicht bei Gutachten: Liegt bereits ein Sachverständigengutachten vor, das Behandlungsfehler verneint, müssen Patienten konkrete Fehlervorwürfe substantiieren.
- Wahlrecht bei Behandlungsalternativen: Bei mehreren medizinisch sinnvollen Behandlungsmethoden muss über deren unterschiedliche Risiken aufgeklärt werden.
Der Fall: Aortenaneurysma-Operation mit Folgeschäden
Das Oberlandesgericht Naumburg entschied in einem bedeutsamen Arzthaftungsfall zugunsten eines 82-jährigen Patienten, der nach einer AortenaneurysmaOperation unter Potenzstörungen und Inkontinenz litt.
Sachverhalt im Überblick
Der Patient unterzog sich im August 2009 einer offenen konventionellen Operation zur
Ausschaltung eines großen Aortenaneurysmas. Dabei standen grundsätzlich zwei
Behandlungsmethoden zur Verfügung:
- Offene Aneurysmaausschaltung (durchgeführte Methode)
- Endovaskuläre Methode mittels Stentgraft
Nach der Operation traten erhebliche Potenzstörungen und Inkontinenz auf. Der Patient klagte auf Schmerzensgeld von mindestens 20.000 Euro und Schadensersatz.
Zentrale Rechtsfragen und Entscheidung
1. Behandlungsfehler bei vorhandenem Gutachten
Rechtsgrundsatz: Liegt bereits ein Sachverständigengutachten vor, das einen Behandlungsfehler
verneint und ein operationsinhärentes Risiko bestätigt, treffen den Patienten erhöhte
Substantiierungsanforderungen.
Der Patient muss:
- Sich konkret mit dem Gutachten auseinandersetzen
- Spezifische Behandlungsfehler mindestens grob bezeichnen
- Über bloße Verdachtsmomente hinausgehen
Im konkreten Fall: Das vorliegende Gutachten bestätigte eine fachgerechte Operation ohne Behandlungsfehler. Die Potenzstörungen wurden als typisches, auch bei korrektem Vorgehen mögliches Operationsrisiko eingestuft.
2. Aufklärungspflicht und Beweiswert der Unterschrift
Kernaussage des OLG: Die Unterzeichnung eines Aufklärungsbogens beweist nicht automatisch:
- Dass der Patient den Bogen gelesen und verstanden hat
- Dass ein Aufklärungsgespräch stattgefunden hat
- Dass der Inhalt mit dem Patienten erörtert wurde
Darlegungs- und Beweislast: Die Behandlungsseite trägt die volle Beweislast für ein
ordnungsgemäßes Aufklärungsgespräch. Eine bloße Unterschrift reicht hierfür nicht aus.
3. Aufklärung über Behandlungsalternativen
Bei mehreren medizinisch sinnvollen Behandlungsmethoden mit unterschiedlichen Risikoprofilen muss der Arzt über folgende Punkte aufklären:
- Verfügbare Behandlungsalternativen
- Spezifische Risiken und Erfolgschancen jeder Methode
- Für und Wider der verschiedenen Ansätze
Besonderheit im Fall: Die offene Methode war mit einem 40-70%igen Risiko für Potenzstörungen
verbunden, während die endovaskuläre Methode dieses Risiko deutlich reduziert hätte.
Praktische Konsequenzen für Ärzte und Patienten
Für Ärzte und Kliniken
Do’s:
- Führung detaillierter Aufklärungsgespräche mit Dokumentation
- Erörterung von Behandlungsalternativen bei Wahlmöglichkeiten
- Aufklärung über methodenspezifische Risiken
- Einräumung ausreichender Bedenkzeit
Don’ts:
- Verlass auf bloße Unterschriften unter Aufklärungsbögen
- Übergehen von Behandlungsalternativen mit unterschiedlichen Risikoprofilen
- Unzureichende Dokumentation der Aufklärungsinhalte
Für Patienten
Ihre Rechte:
- Umfassende Aufklärung über Behandlungsalternativen
- Detaillierte Information über spezifische Risiken
- Ausreichende Bedenkzeit vor der Entscheidung
Bei Behandlungsfehlern:
- Konkrete Substantiierung von Fehlervorwürfen erforderlich
- Auseinandersetzung mit vorhandenen Gutachten notwendig
- Rechtzeitige anwaltliche Beratung empfehlenswert
Bedeutung für die Rechtspraxis
Das Urteil des OLG Naumburg stärkt die Patientenrechte erheblich und präzisiert wichtige Grundsätze der Arzthaftung:
- Formale Aufklärungsbögen ersetzen nicht das persönliche Gespräch
- Behandlungsalternativen müssen bei unterschiedlichen Risikoprofilen erörtert werden
- Die Beweislast für ordnungsgemäße Aufklärung liegt vollständig bei der Behandlungsseite
Verfahrensausgang
Das OLG hob das abweisende Urteil der Vorinstanz auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück. Das Landgericht hatte die Aufklärungsrüge des Patienten übergangen und sich fälschlicherweise auf die bloße Unterschrift verlassen.
Fazit und Empfehlungen
Dieses Urteil verdeutlicht die hohen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Patientenaufklärung.
Ärzte sollten ihre Aufklärungspraxis überprüfen und bei Behandlungsalternativen deren spezifische Risiken detailliert erörtern.
Patienten haben das Recht auf umfassende Information und sollten bei Zweifeln an der Aufklärungsqualität rechtlichen Rat einholen. Die bloße Unterschrift unter einen Aufklärungsboge schützt nicht vor Haftungsansprüchen.
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Rechtsgebiete: Arzthaftungsrecht, Medizinrecht, Patientenrechte
Hinweis: Dieser Beitrag dient der allgemeinen Information und ersetzt keine individuelle Rechtsberatung. Bei konkreten Rechtsfragen wenden Sie sich bitte an einen spezialisierten Fachanwalt.