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Eigenbedarfskündigung für unverheiratete Stieftochter unwirksam – Amtsgericht Siegburg

AG Siegburg – Urteil vom 17.Oktober 2018 (Az. 105 C 97/18)

Das Wichtigste in Kürze

Das Amtsgericht Siegburg hat in einem wichtigen Urteil entschieden, dass eine Eigenbedarfskündigung zugunsten der Tochter der unverheirateten Lebensgefährtin des Vermieters unwirksam ist. Die Kündigung scheiterte daran, dass die sogenannte „Stieftochter“ nicht zum privilegierten Personenkreis des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB gehört.

Der Fall im Detail

Ausgangslage

  • Mietverhältnis: 84 qm Drei-Zimmer-Wohnung, Kaltmiete 550 EUR monatlich
  • Mietdauer: Seit 01.08.2009
  • Mieterin: Alleinerziehende Mutter mit drei minderjährigen Kindern
  • Vermieter: Bewohnt selbst eine Wohnung im selben Mehrfamilienhaus

Die Kündigung

Der Vermieter kündigte am 08.09.2017 ordentlich zum 30.06.2018 wegen Eigenbedarfs für die Tochter seiner Lebensgefährtin. Diese sollte nach Studienabschluss gemeinsam mit ihrem Ehemann in die Wohnung einziehen.

Die rechtliche Bewertung des Gerichts

Kern der Entscheidung

Das Gericht stellte fest, dass die Tochter der Lebensgefährtin nicht zu den „Familienangehörigen“ im Sinne des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB gehört, da:

  1. keine Verwandtschaft zwischen Vermieter und der jungen Frau besteht
  2. keine Verschwägerung vorliegt, weil Vermieter und Lebensgefährtin nicht verheiratet sind
  3. Sie auch keine „Angehörige des Haushalts“ ist, da sie nicht in der Wohnung des Vermieters lebt

Wichtige Rechtsgrundsätze

Enger Familienbegriff bei Eigenbedarfskündigungen

Das Gericht betonte, dass der Familienbegriff im Mietrecht restriktiv ausgelegt werden muss:

  • Nur tatsächlich Verwandte oder Verschwägerte fallen unter § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB
  • Eine rein persönliche oder soziale Bindung reicht nicht aus
  • Rechtssicherheit für Mieter muss gewährleistet sein

Moderne Familienformen vs. Rechtssicherheit

Obwohl das Gericht die gesellschaftliche Realität von „Patchworkfamilien“ anerkannte, hielt es an der formalen rechtlichen Betrachtung fest:

Mit diesem Gesetzeszweck unvereinbar wäre es, wenn sich die Auslegung des Begriffs ‚Familienangehöriger‘ gänzlich von dem Merkmal der Verwandtschaft und Schwägerschaft lösen würde.“

Praktische Konsequenzen für Vermieter

Was Vermieter beachten müssen

✅ Eigenbedarfskündigung ist möglich für:

  • Ehepartner und eigene Kinder
  • Stiefkinder (bei bestehender Ehe)
  • Angehörige des eigenen Haushalts
  • Nahe Verwandte bei enger persönlicher Bindung

Eigenbedarfskündigung ist nicht möglich für:

  • Kinder des unverheirateten Partners
  • Entfernte Verwandte ohne enge Bindung
  • Rein emotional verbundene Personen ohne rechtliche Beziehung

Alternative: Sonstiges berechtigtes Interesse

Das Gericht prüfte auch, ob ein sonstiges berechtigtes Interesse nach § 573 Abs. 1 BGB vorliegen könnte (z.B. Pflegebedürftigkeit), verneinte dies jedoch aufgrund:

  • Unsubstantiierter Gesundheitsprobleme
  • Fehlender konkreter Pflegebedürftigkeit
  • Nicht nachvollziehbarer Notwendigkeit der Unterbringung im eigenen Haus

Tipps für die Praxis

Für Vermieter

  1. Rechtliche Beziehung prüfen: Vor Kündigung genau prüfen, ob formale Verwandtschaft / Verschwägerung besteht.
  2. Heirat als Option: Bei ernstgemeinten Beziehungen kann eine Heirat die rechtliche Situation ändern.
  3. Sorgfältige Begründung: Alle Kündigungsgründe bereits im Kündigungsschreiben vollständig darlegen.
  4. Haushaltsangehörige: Prüfen, ob die Person eventuell als Haushaltsangehöriger qualifiziert werden kann.

Für Mieter

  1. Widerspruch einlegen: Bei zweifelhaften Eigenbedarfskündigungen immer widersprechen.
  2. Rechtliche Prüfung: Verwandtschaftsverhältnisse der begünstigten Person hinterfragen.
  3. Vorgetäuschten Eigenbedarf aufdecken: Indizien für Scheinbegründungen sammeln.
  4. Räumungsfrist beantragen: Auch bei berechtigtem Eigenbedarf kann eine angemessene
    Räumungsfrist gewährt werden.

Bedeutung für die Rechtspraxis

Dieses Urteil verdeutlicht, dass Gerichte bei Eigenbedarfskündigungen strenge Maßstäbe anlegen und formale Kriterien über emotionale Bindungen stellen. Für die Praxis bedeutet dies:

  • Rechtssicherheit geht vor gesellschaftlichem Wandel
  • Klare Abgrenzung zwischen privilegierten und nicht-privilegierten Personen
  • Schutz der Mieter vor vorgeschobenen Kündigungsgründen

Fazit: Einzelfallprüfung entscheidend

Das Urteil des Amtsgerichts Siegburg macht deutlich: Eigenbedarfskündigungen erfordern eine formal-rechtliche Beziehung zwischen Vermieter und der begünstigten Person. Reine Herzensangelegenheiten reichen nicht aus – das Gesetz fordert rechtliche Klarheit zum Schutz der Mieter.

Vermieter sollten vor einer Eigenbedarfskündigung daher immer rechtlichen Rat einholen, um kostspielige Fehlentscheidungen zu vermeiden.


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WKR Rechtsanwaltsgesellschaft mbH