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Die WKR informiert: Interessante Urteile aus verschiedenen Rechtsgebieten, einschließlich des Anscheinsbeweises bei Rückwärtsfahren, insbesondere bei Unfällen, und dessen Bedeutung in der Rechtsprechung, sowie der Rolle des Anscheinsbeweises bei Rückwärtsfahren in der Unfallbewertung...

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Parkplatzunfälle: BGH klärt Anwendung des Anscheinsbeweises bei Rückwärtsfahrern

BGH-Urteil legt wichtige Grundsätze zur Haftungsverteilung fest

Bei Unfällen auf Parkplätzen stellt sich häufig die Frage nach der Haftungsverteilung zwischen den beteiligten Parteien. Ein wegweisendes Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 11.10.2016 (Az. VI ZR 66/16) bringt Klarheit in die Anwendung des Anscheinsbeweises bei Parkplatzunfällen mit Rückwärtsfahrern und stärkt die Position von Fahrzeugführern, die vor einer Kollision zum Stehen gekommen sind.

Der Sachverhalt: Kollision auf einem Baumarkt-Parkplatz

Der Fall ereignete sich am 3. Juli 2014 auf dem Parkplatz eines Baumarktes. Die Klägerin und der Beklagte parkten in gegenüberliegenden Parkbuchten. Nachdem die Klägerin beobachtet hatte, dass der Beklagte in eine Parkbucht eingefahren war, setzte sie rückwärts aus ihrer Parkbucht aus und brachte ihr Fahrzeug auf dem Fahrweg zum Stehen. Bevor sie den Vorwärtsgang einlegen konnte, fuhr der Beklagte ebenfalls rückwärts aus seiner Parkbucht heraus und kollidierte mit dem bereits stehenden Fahrzeug der Klägerin. Die Versicherung des Beklagten regulierte den Schaden auf Grundlage einer 50:50-Haftungsquote. Die Klägerin verlangte jedoch vollen Schadensersatz.tsätze formuliert:

Die Entscheidung der Vorinstanzen

Sowohl das Amtsgericht als auch das Landgericht Frankfurt (Oder) wiesen die Klage ab. Das Berufungsgericht begründete seine Entscheidung damit, dass zwar ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des rückwärtsfahrenden Beklagten spreche, gleichzeitig aber auch ein Anscheinsbeweis für ein Mitverschulden der Klägerin vorliege, da ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang zwischen ihrer Rückwärtsfahrt und dem Unfall bestanden habe – selbst wenn ihr Fahrzeug im Unfallzeitpunkt bereits stand.

Die BGH-Entscheidung: Keine Anwendung des Anscheinsbeweises gegen den stehenden Fahrzeugführer

Der BGH hob das Urteil des Landgerichts auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück. In seiner Begründung stellte der VI. Zivilsenat klar:

  1. Die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO (besondere Sorgfaltspflicht beim Rückwärtsfahren) ist auf Parkplätzen nicht unmittelbar, aber über § 1 StVO mittelbar anwendbar.
  2. Zentrale Feststellung: Ein Anscheinsbeweis für ein Mitverschulden kommt nicht in Betracht, wenn das Fahrzeug eines Unfallbeteiligten im Kollisionszeitpunkt bereits stand. Die für den Anscheinsbeweis erforderliche „Typizität des Geschehensablaufs“ liegt in solchen Fällen nicht vor.
  3. Der BGH begründet dies damit, dass es keinen allgemeinen Erfahrungssatz gibt, wonach auch der Fahrzeugführer, der sein Fahrzeug vor der Kollision zum Stillstand gebracht hat, die ihn treffenden Sorgfaltspflichten verletzt hat.
  4. Anders als im fließenden Verkehr gilt auf Parkplätzen kein Vertrauensgrundsatz: Jeder Verkehrsteilnehmer muss jederzeit mit ein- und ausparkenden sowie rückwärtsfahrenden Fahrzeugen rechnen.
  5. Hat ein Fahrer beim Rückwärtsfahren seine Pflicht erfüllt und sein Fahrzeug vor einer Kollision zum Stehen gebracht, so hat er grundsätzlich seiner Verpflichtung zum jederzeitigen Anhalten genügt.

Praktische Bedeutung für die Schadensregulierung

Diese Entscheidung hat erhebliche Auswirkungen auf die Haftungsverteilung bei Parkplatzunfällen:

  • Sie stärkt die Position desjenigen, der sein Fahrzeug vor der Kollision zum Stehen gebracht hat.
  • Sie widerspricht der bis dahin von manchen Gerichten vertretenen Auffassung, dass ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit dem Rückwärtsfahren für die Anwendung des Anscheinsbeweises ausreiche.
  • Sie schafft mehr Rechtssicherheit bei der Beurteilung von Parkplatzunfällen.

Dennoch weist der BGH darauf hin, dass auch bei Anwendung des Anscheinsbeweises nur gegen den aktiv rückwärtsfahrenden Unfallbeteiligten nicht zwangsläufig eine 100%-ige Haftung folgt. Die Betriebsgefahr des stehenden Fahrzeugs und weitere sie erhöhende Umstände können im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG Berücksichtigung finden.

Fazit für die Praxis

Dieses BGH-Urteil verdeutlicht, wie wichtig die genaue Feststellung des Unfallhergangs bei Parkplatzunfällen ist. Entscheidend kann sein, ob ein Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt bereits stand oder noch in Bewegung war. Betroffene sollten nach einem Unfall daher unbedingt folgende Punkte beachten:

  1. Den genauen Unfallhergang dokumentieren (Fotos, Skizzen)
  2. Zeugen sichern, die den Stillstand eines Fahrzeugs bestätigen können
  3. Bei der Unfallschilderung gegenüber Polizei und Versicherung auf den Stillstand des Fahrzeugs hinweisen

Die Entscheidung zeigt, dass eine pauschale 50:50-Regelung bei Parkplatzunfällen nicht immer angemessen ist und eine differenzierte Betrachtung des Einzelfalls erforderlich macht.


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Schlagworte: Parkplatzunfall, Anscheinsbeweis, Rückwärtsfahren, BGH-Urteil, Haftungsverteilung, Verkehrsrecht, Schadensregulierung, § 9 Abs. 5 StVO, § 17 StVG

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