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Kettenauffahrunfall: Beweislast und Haftungsverteilung nach OLG Hamm-Urteil

Der Anscheinsbeweis bei Kettenauffahrunfällen gilt nicht automatisch

Bei einem klassischen Auffahrunfall spricht der erste Anschein in der Regel gegen den auffahrenden Verkehrsteilnehmer. Doch wie sieht es bei Kettenauffahrunfällen mit mehreren beteiligten Fahrzeugen aus? Diese Frage beantwortet das Oberlandesgericht (OLG) Hamm in seinem wegweisenden Urteil vom 06.02.2014 (Az. 6 U 101/13) und stellt wichtige Grundsätze zur Beweislastverteilung und Schadensberechnung auf.

Die Kernaussagen des OLG Hamm-Urteils

Das Gericht hat zwei wesentliche Leitsätze formuliert:

  1. Keine automatische Anwendung des Anscheinsbeweises beim letzten Fahrer: Bei einem Kettenauffahrunfall kommt ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass das ihm vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist.
  2. Quotenberechnung bei wirtschaftlichem Totalschaden: Führen bei einem Kettenauffahrunfall die Schäden im Front- und Heckbereich des geschädigten Kraftfahrzeugs zu einem wirtschaftlichen Totalschaden und ist nicht feststellbar, ob der Frontschaden durch das Auffahren des nachfolgenden Fahrzeugs verursacht wurde, kann der Schadensersatzanspruch nach § 287 ZPO durch eine quotenmäßige Aufteilung des Gesamtschadens ermittelt werden.

Der Fall im Detail

Bei dem zu entscheidenden Fall kam es zu einem klassischen Kettenauffahrunfall mit vier beteiligten Fahrzeugen. Der Beklagte fuhr als letztes Fahrzeug in der Kette auf das Fahrzeug des Klägers auf, welches zwischen zwei weiteren Fahrzeugen stand. Das Fahrzeug des Klägers erlitt sowohl einen Front- als auch einen Heckschaden. Strittig war, ob die Ehefrau des Klägers, die das Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt steuerte, vor dem Aufprall des Beklagtenfahrzeugs ihrerseits auf das vor ihr fahrende Fahrzeug aufgefahren war oder ob sie erst durch den Heckaufprall auf den Vordermann aufgeschoben wurde.

Anscheinsbeweis bei Kettenauffahrunfällen eingeschränkt

Anders als bei einem einfachen Auffahrunfall sieht das OLG Hamm bei Kettenauffahrunfällen den Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden kritisch. Die Richter führen aus:

„Ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer [kommt] nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass das vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist.“

Fehlt es an dieser Feststellung, liegt kein typischer Geschehensablauf vor, der ein Verschulden des zuletzt Auffahrenden nahelegt. Es besteht dann die Möglichkeit, dass der Vorausfahrende unvorhersehbar und abrupt zum Stehen kam, indem er auf seinen Vordermann auffuhr und dadurch den Anhalteweg für den Nachfolgenden unzumutbar verkürzte.

Quotenberechnung zur Schadensermittlung

Eine Besonderheit des Urteils liegt in der Methode zur Berechnung des ersatzfähigen Schadens. Da sowohl Front- als auch Heckschaden zum wirtschaftlichen Totalschaden führten, ohne dass feststellbar war, welcher Schaden zuerst eintrat, entschied sich das Gericht für eine quotenmäßige Aufteilung des Gesamtschadens nach § 287 ZPO. Das OLG Hamm stellte klar, dass eine solche Quotenberechnung bereits dann anwendbar ist, wenn keine der möglichen Unfallvarianten wahrscheinlicher erscheint als die andere. Damit widerspricht es der erstinstanzlichen Auffassung, wonach eine Quotenberechnung erst dann in Betracht käme, wenn die Verursachung des Frontschadens durch den Auffahrenden deutlich wahrscheinlicher sei. Die Quotenberechnung erfolgte im Verhältnis der fiktiven Reparaturkosten für Front- und Heckschaden, woraus sich eine Haftungsquote von 55% für den Heckschaden ergab.

Haftungsverteilung zu gleichen Teilen

Im konkreten Fall kam das Gericht zu einer Haftungsverteilung von 50:50, da auf beiden Seiten nur die Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge ins Gewicht fiel. Ein Verschulden konnte weder beim Auffahrenden noch bei der Ehefrau des Klägers festgestellt werden.

Fazit: Wichtige Orientierung für die Unfallregulierung

Das OLG Hamm-Urteil liefert wichtige Orientierungspunkte für die Regulierung von Kettenauffahrunfällen:

  1. Der Anscheinsbeweis gegen den letzten Auffahrenden gilt nicht automatisch.
  2. Bei unklarer Verursachung von Front- und Heckschäden ist eine quotenmäßige Aufteilung des Gesamtschadens möglich.
  3. Diese Quotenberechnung dient dazu, unbillige Ergebnisse zu vermeiden, wenn nicht feststellbar ist, welcher Schaden zuerst eingetreten ist.

Für Geschädigte bedeutet dieses Urteil, dass sie bei ähnlichen Konstellationen nicht automatisch leer ausgehen, sondern zumindest anteilig Schadensersatz erhalten können. Gleichzeitig werden die Rechte der Auffahrenden gestärkt, die nicht pauschal als Alleinschuldige angesehen werden können.


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