Verkehrsunfall: Wann Geschädigte die Nachbesichtigung des Fahrzeugs verweigern dürfen
Saarländisches OLG – Beschluss vom 29.05.2018 (Az. 4 W 9/18)
Das Wichtigste in Kürze
Das Saarländische Oberlandesgericht hat in seinem Beschluss vom 29.05.2018 (Az. 4 W 9/18) eine für Verkehrsunfälle bedeutsame Entscheidung getroffen: Verweigert ein Geschädigter dem Haftpflichtversicherer ohne sachlichen Grund die Nachbesichtigung seines Fahrzeugs, obwohl begründete Zweifel am vorgelegten Privatgutachten bestehen, muss er die Prozesskosten tragen – selbst wenn der Versicherer später anerkennt.
Der Fall: Verweigerung der Nachbesichtigung führt zu Kostenlast
Sachverhalt
- Verkehrsunfall am 7. Januar 2016 in Saarbrücken
- Geschädigter forderte 5.752,96 € Schadensersatz mit Privatgutachten
- Haftpflichtversicherer bat um Nachbesichtigung des Fahrzeugs
- Geschädigter verweigerte Nachbesichtigung ohne sachlichen Grund
- Klage wurde erhoben, später erkannte Versicherer nach Gerichtsgutachten an
Das Problem mit dem Privatgutachten
Das OLG stellte mehrere gravierende Widersprüche im Privatgutachten fest:
- Reparaturkosten von 4.477,27 € standen im Widerspruch zu polizeilichen Feststellungen
- Widersprüchliche Angaben zu Vorschäden
- Fehlende Gegenüberstellung der Unfallfahrzeuge
- Das spätere Gerichtsgutachten bestätigte nur 2.640,57 € als unfallbedingt
Die Rechtslage: Rücksichtspflicht des Geschädigten
Grundsatz der Nachbesichtigung
Normalerweise haben Haftpflichtversicherer keinen Anspruch auf Nachbesichtigung des
unfallgeschädigten Fahrzeugs. Jedoch bestehen Ausnahmen bei:
- Begründeten Zweifeln an der Richtigkeit des Privatgutachtens
- Verdacht auf betrügerische Schadensangaben
- Vermutung verschwiegen Vorschäden
Rücksichtspflicht bei begründeten Zweifeln
Das Gericht betonte die gesetzliche Rücksichtspflicht des Geschädigten:
„Kann der Haftpflichtversicherer begründete Zweifel an der Richtigkeit des vom Geschädigten
vorgelegten Privatgutachtens haben, verstößt der Geschädigte gegen die ihm obliegende
Rücksichtspflicht, wenn er die Besichtigung des Fahrzeugs ohne berechtigten Grund verwehrt.“
Praktische Auswirkungen für Verkehrsunfälle
Für Geschädigte
- Sorgfältige Prüfung des Privatgutachtens auf Plausibilität
- Kooperative Haltung bei berechtigten Nachbesichtigungswünschen
- Risiko der Kostentragung bei grundloser Verweigerung
- Nachbesichtigung kann in Anwesenheit des Geschädigten erfolgen
Für Haftpflichtversicherer
- Angemessene Prüffrist von 4-6 Wochen bei durchschnittlichen Unfällen
- Sofortiges Anerkenntnis nach Gutachten schützt vor Kostenlast (§ 93 ZPO)
- Begründete Zweifel müssen erkennbar sein
- Nachbesichtigung erfolgt auf eigene Kosten und Gefahr
Die Prüffrist des Versicherers
Das OLG bestätigte etablierte Grundsätze zur angemessenen Prüffrist:
- Standardfall: 4-6 Wochen ab Anspruchsschreiben
- Komplexe Fälle: Verlängerung möglich (Auslandsberührung, komplexer Unfallhergang)
- Einzelfallbetrachtung ist maßgebend
- Keine starren Regeln, aber Beschleunigungsgebot
Kostenverteilung nach § 93 ZPO
Sofortiges Anerkenntnis
Ein sofortiges Anerkenntnis unter Kostenverwahrung ist möglich:
- Auch nach längerer Zeit bei verweigerter Nachbesichtigung
- Nach Einholung des Gerichtsgutachtens
- Innerhalb der gerichtlich gesetzten Stellungnahmefrist
Beweislast
Die Beweislast für fehlende Klageveranlassung liegt beim Versicherer, was das Risiko unbegründeter Nachbesichtigungswünsche begrenzt.
Praxistipps für Anwälte und Betroffene
Bei begründeten Zweifeln am Privatgutachten
- Widersprüche dokumentieren (wie polizeiliche vs. gutachterliche Feststellungen)
- Nachbesichtigung zeitnah beantragen
- Modalitäten klären (Ort, Zeit, Anwesenheitsrecht)
- Kostenverwahrung bei späterem Anerkenntnis erklären
Bei Nachbesichtigungswunsch
- Sachlichkeit prüfen des Verlangens
- Kooperative Lösung suchen
- Begleitung organisieren (Anwalt, eigener Sachverständiger)
- Verweigerung nur bei fehlendem sachlichem Grund
Fazit: Balance zwischen Geschädigten- und Versichererinteressen
Das Urteil des Saarländischen OLG schafft Klarheit im Spannungsfeld zwischen dem Regulierungsinteresse der Geschädigten und dem Prüfungsrecht der Versicherer. Es zeigt:
- Privatgutachten müssen plausibel und widerspruchsfrei sein
- Nachbesichtigung ist bei begründeten Zweifeln zumutbar
- Prozessrisiko liegt bei grundloser Verweigerung beim Geschädigten
- Angemessene Prüffristen schützen beide Seiten
Die Entscheidung stärkt das Vertrauen in eine sachgerechte Schadenregulierung und verhindert dilatorisches Verhalten auf beiden Seiten.
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Rechtlicher Hinweis: Dieser Beitrag dient der allgemeinen Information und ersetzt keine individuelle Rechtsberatung. Bei konkreten Rechtsfragen wenden Sie sich bitte an einen Fachanwalt.
Schlagwörter: Verkehrsunfall, Nachbesichtigung, Haftpflichtversicherung, Privatgutachten, § 93 ZPO, Prozesskosten, Schadensregulierung, OLG Saarland, Rücksichtspflicht, Sofortiges Anerkenntnis