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Doppelte Abfindung bei betriebsbedingter Kündigung: BAG-Urteil stärkt Arbeitnehmerrechte

Bundesarbeitsgericht entscheidet zugunsten der Arbeitnehmer – Wann Sie Anspruch auf zwei Abfindungen haben

Das Wichtigste in Kürze

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seinem Urteil vom 19. Juli 2016 (Az. 2 AZR 536/15) eine wegweisende Entscheidung getroffen: Arbeitnehmer können unter bestimmten Umständen sowohl eine Abfindung nach dem Kündigungsschutzgesetz (§ 1a KSchG) als auch eine Abfindung aus einem Sozialplan oder Interessenausgleich erhalten. Diese Doppelzahlung ist rechtlich zulässig, wenn der Arbeitgeber ungenau formuliert.

Der Fall: Wenn Arbeitgeber zu großzügig sind

Ein langjähriger Mitarbeiter (seit 1974 beschäftigt) erhielt eine betriebsbedingte Kündigung. Das Besondere: Es gab sowohl einen Interessenausgleich mit Abfindungsregelung als auch einen gesetzlichen Hinweis nach § 1a KSchG im Kündigungsschreiben. Der Arbeitgeber zahlte zunächst die Sozialplan-Abfindung in Höhe von 86.300 Euro, der Arbeitnehmer klagte jedoch erfolgreich auf eine weitere Abfindung in gleicher Höhe.

Die entscheidende Formulierung im Kündigungsschreiben

Der Arbeitgeber schrieb: „Lassen Sie diese Frist verstreichen, ohne eine Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht zu erheben, haben Sie nach § 1a KSchG Anspruch auf Zahlung einer Abfindung.“

Rechtliche Grundlagen: § 1a KSchG erklärt

Voraussetzungen für die gesetzliche Abfindung

Nach § 1a Kündigungsschutzgesetz haben Arbeitnehmer Anspruch auf eine Abfindung, wenn:

  1. Betriebsbedingte Kündigung vorliegt
  2. Kein Kündigungsschutzprozess geführt wird (Frist: 3 Wochen)
  3. Ausdrücklicher Hinweis im Kündigungsschreiben steht
  4. Die Klagefrist verstreicht, ohne dass der Arbeitnehmer klagt

Höhe der gesetzlichen Abfindung

Die Abfindung beträgt 0,5 Monatsgehälter pro Beschäftigungsjahr. Bei dem 40-jährig beschäftigten Kläger ergab sich so derselbe Betrag wie aus dem Sozialplan.

Die BAG-Entscheidung im Detail

Warum zwei Abfindungen zulässig sind

Das Bundesarbeitsgericht begründete seine Entscheidung mit verschiedenen Aspekten:

1. Unterschiedliche Zwecke

  • Sozialplan-Abfindung: Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile durch Arbeitsplatzverlust
  • § 1a-Abfindung: Belohnung für Rechtssicherheit durch Klageverzicht

2. Eindeutige Formulierung erforderlich: Der Arbeitgeber hätte klar formulieren müssen, wenn er
nur eine Abfindung zahlen wollte. Das Kündigungsschreiben enthielt aber einen vollständigen
Hinweis nach § 1a KSchG.

3. Rechtssicherheit für Arbeitnehmer: Arbeitnehmer müssen aus dem Kündigungsschreiben
eindeutig erkennen können, welche Abfindung ihnen zusteht. Nachträgliche Gespräche ändern
daran nichts.

Keine Anrechnung möglich

Eine Anrechnung der Sozialplan-Abfindung auf den § 1a-Anspruch scheitert, weil beide Zahlungen
unterschiedliche Zwecke verfolgen und der Interessenausgleich keine entsprechende Regelung
enthielt.

Praktische Auswirkungen für Arbeitnehmer

Wann haben Sie Anspruch auf beide Abfindungen?

Checkliste für Arbeitnehmer:

  • ✅ Betriebsbedingte Kündigung erhalten
  • ✅ Sozialplan oder Interessenausgleich vorhanden
  • ✅ Kündigungsschreiben enthält § 1a-Hinweis
  • ✅ Keine Kündigungsschutzklage erhoben
  • ✅ Arbeitgeber hat keine Anrechnung vereinbart

Vorsicht bei der Formulierung

Nicht jeder § 1a-Hinweis führt zur Doppelzahlung. Entscheidend ist die konkrete Formulierung im Kündigungsschreiben. Verweise auf „Berechnungsgrundlage“ oder explizite Anrechnungsklausel können den Anspruch ausschließen.

Handlungsempfehlungen

Für Arbeitnehmer

  1. Kündigungsschreiben genau prüfen – Enthält es einen vollständigen § 1a-Hinweis?
  2. Beide Anspruchsgrundlagen prüfen – Sozialplan UND § 1a KSchG
  3. Rechtliche Beratung einholen – Die Abgrenzung ist komplex
  4. Klagefristen beachten – Bei Unsicherheit zunächst klagen, später vergleichen

Für Arbeitgeber

  1. Kündigungsschreiben präzise formulieren – Eindeutig nur auf eine Abfindungsgrundlage verweisen
  2. Anrechnungsklauseln vereinbaren – Im Sozialplan oder Interessenausgleich
  3. Rechtliche Prüfung vor Versendung der Kündigungsschreiben

Fazit: Chance für Arbeitnehmer, Warnung für Arbeitgeber

Das BAG-Urteil zeigt: Unachtsamkeit bei der Formulierung von Kündigungsschreiben kann teuer werden. Für Arbeitnehmer eröffnet das Urteil neue Möglichkeiten, höhere Abfindungen zu erhalten. Entscheidend ist jedoch immer der Einzelfall und die konkrete Formulierung der relevanten Dokumente.

Unser Tipp: Lassen Sie sich bei betriebsbedingten Kündigungen immer anwaltlich beraten. Die Rechtslage ist komplex und die finanziellen Auswirkungen können erheblich sein.


Benötigen Sie Unterstützung bei einer betriebsbedingten Kündigung oder Fragen zu Ihren Abfindungsansprüchen? Kontaktieren Sie uns für eine individuelle Beratung.

Rechtlicher Hinweis: Dieser Artikel dient der allgemeinen Information und ersetzt keine individuelle Rechtsberatung. Jeder Fall ist einzeln zu prüfen.

WKR Rechtsanwaltsgesellschaft mbH