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Betriebsbedingte Kündigung wegen Arbeitsverdichtung: Hohe Darlegungsanforderungen für Arbeitgeber

LAG Sachsen-Anhalt stärkt Arbeitnehmerrechte bei umstrittenen Personalkürzungen

Das Wichtigste in Kürze

Das Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt hat in seinem Urteil vom 04.05.2010 (Az. 6 Sa 240/09) wichtige Grundsätze für betriebsbedingte Kündigungen aufgrund von Arbeitsverdichtung aufgestellt. Der Fall zeigt exemplarisch, welche hohen Anforderungen Arbeitgeber erfüllen müssen, wenn sie Arbeitsplätze abbauen und die verbleibende Arbeit auf weniger Beschäftigte verteilen wollen.

Der Fall: Vier von sechs Arbeitsplätzen sollten wegfallen

Ein Projektleiter, der seit 1994 im Bereich „Öffentlichkeitsarbeit und Sicherheitstraining“ bei einem gemeinnützigen Verein beschäftigt war, erhielt eine betriebsbedingte Kündigung. Der Arbeitgeber kündigte zeitgleich vier von insgesamt sechs Arbeitnehmern und wollte deren Aufgaben auf den Geschäftsführer und eine Teilzeitkraft übertragen. Als Grund führte der Verein finanzielle Schwierigkeiten aufgrund veränderter Förderstrukturen des Landes Sachsen-Anhalt an. Nach einer Untersuchung des Landesrechnungshofs sollte von institutioneller auf projektbezogene Förderung umgestellt werden.

Zusätzlicher Konflikt: Handgreiflichkeiten im Büro

Erschwerend kam hinzu, dass es zwischen dem gekündigten Arbeitnehmer und dem Geschäftsführer zu einem Handgemenge gekommen war. Der Streit entzündete sich an einer Vereinssatzung, die der Arbeitnehmer als Vereinsmitglied benötigte. Daraufhin sprach der Arbeitgeber zusätzlich eine außerordentliche Kündigung wegen Tätlichkeit aus.

Die Entscheidung: Beide Kündigungen unwirksam

Außerordentliche Kündigung scheitert an Interessenabwägung

Bei der außerordentlichen Kündigung scheiterte diese an der erforderlichen Interessenabwägung. Zu Gunsten des Arbeitnehmers sprachen:

  • Lange Betriebszugehörigkeit (seit 1994)
  • Fortgeschrittenes Lebensalter
  • Störungsfreies Arbeitsverhältnis bis 2007
  • Nur geringe Intensität der behaupteten Tätlichkeit
  • Vereinsrechtlicher Bezug des Konflikts
  • Mitverursachung durch das Verhalten des Geschäftsführers

Betriebsbedingte Kündigung: Unzureichende Darlegung der Arbeitsverdichtung

Die betriebsbedingte Kündigung scheiterte an unzureichenden Darlegungen des Arbeitgebers. Das
Gericht stellte hohe Anforderungen an die Begründung:

Rechtliche Grundsätze für Arbeitsverdichtung

Das Urteil konkretisiert wichtige Rechtsgrundsätze für betriebsbedingte Kündigungen bei innerbetrieblichen Umstrukturierungen:

1.Wirtschaftliche Entscheidung erforderlich

Der Arbeitgeber muss eine unternehmerische Entscheidung treffen, die zum Wegfall von Arbeitsplätzen führt und bei Kündigungsausspruch bereits greifbare Formen angenommen hat.

2. Arbeitsverdichtung grundsätzlich möglich

Eine wirtschaftliche Entscheidung kann auch darin bestehen, zukünftig die anfallende Arbeitsmenge mit weniger Arbeitnehmern zu erledigen (Arbeitsverdichtung).

3. Substantiierte Darlegungslast

Der Arbeitgeber muss substantiiert darlegen, wie die vorhandene Arbeitsmenge auf die verbleibenden Arbeitnehmer so umverteilt wird, dass von diesen keine überobligationsmäßige Leistungen abverlangt werden.

4. Besonders hohe Anforderungen bei drastischen Kürzungen

Bei weitreichenden Umstrukturierungen (hier: Reduzierung von sechs auf zwei Arbeitsplätze) bedarf es eines detaillierten Konzepts, das bereits zur Zeit der Kündigung erarbeitet war.

Was der Arbeitgeber hätte vorlegen müssen

Das Gericht bemängelte konkret folgende Defizite:

  • Fehlende Arbeitsplatzanalysen vor Kündigungsausspruch
  • Widersprüchlicher Sachvortrag zu den tatsächlich anfallenden Aufgaben
  • Keine nachvollziehbare Prognose, wie die Aufgabenverteilung dauerhaft funktionieren soll
  • Fehlende Konzeption für die Neuorganisation
  • Unplausible Zeitplanung des Geschäftsführers

Besonders kritisch sah das Gericht, dass der Arbeitgeber noch im März 2008 eine Neueinstellung vorgenommen hatte, obwohl angeblich bereits seit 2007 Personalüberhang bestand.

Praxistipps für Arbeitgeber

Arbeitgeber sollten bei geplanten betriebsbedingten Kündigungen wegen Arbeitsverdichtung beachten:

Vor der Kündigung:

  • Fundierte Arbeitsplatzanalyse durchführen und dokumentieren
  • Konkrete Umverteilungskonzepte entwickeln
  • Realistische Arbeitszeitkalkulationen erstellen
  • Unternehmerische Entscheidung formal fassen

Bei der Begründung:

  • Detaillierte Darstellung, welche Aufgaben konkret entfallen
  • Präzise Beschreibung der Neuverteilung
  • Nachweis, dass keine überobligationsmäßigen Leistungen erforderlich sind
  • Konsistente Argumentation ohne Widersprüche

Bedeutung für die Praxis

Das Urteil zeigt, dass Gerichte betriebsbedingte Kündigungen bei Arbeitsverdichtung sehr kritisch prüfen. Arbeitgeber müssen bereits vor Kündigungsausspruch ein schlüssiges und realisierbares Konzept vorlegen können.

Für Arbeitnehmer bedeutet dies verstärkten Schutz vor vorgeschobenen betriebsbedingten Gründen. Eine erfolgreiche Kündigungsschutzklage ist möglich, wenn der Arbeitgeber seine Darlegungslast nicht erfüllt.

Für Arbeitgeber verschärfen sich die Anforderungen an die Vorbereitung und Begründung betriebsbedingter Kündigungen erheblich. Pauschale Behauptungen über Arbeitsverdichtung reichen nicht aus.

Fazit

Das Urteil des LAG Sachsen-Anhalt stärkt den Kündigungsschutz bei umstrittenen Personalkürzungen. Arbeitgeber müssen ihre Umstrukturierungspläne sorgfältig vorbereiten und dokumentieren. Arbeitnehmer haben gute Chancen, gegen unzureichend begründete betriebsbedingte Kündigungen erfolgreich vorzugehen. Bei Kündigungen sollten Betroffene zeitnah anwaltlichen Rat einholen, da die Klagefristen kurz sind (drei Wochen nach Zugang der Kündigung).


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